Donnerstag, 21.09.2023
14:30 - 16:00
Hörsaal Q015
S07
Vereinbarkeit von Beruf und Pflege - Diskontinuitäten gestalten
Moderation: S. Hampel, Köln
Die Begleitung eines Menschen mit Pflegebedarfs fordert hohe Zeit- und Organisationsflexibilität von Pflegenden Angehörigen. Gerade im Alltag sind diese konfrontiert mit Aufgaben in unterschiedlichen Lebensbereichen, die es zu vereinbaren gilt. Die Situation Pflegender Erwerbstätiger wird meist erst dann in Unternehmen wahrnehmbar, wenn es schon zu einer Schieflage bei der Vereinbarkeit gekommen und der Druck hoch ist. Gerade auch in Zeiten des Fachkräftemangels und bei unzureichenden Versorgungsangeboten gewinnt die Thematik an Brisanz. Der sogenannte "Pflegenotstand" wird in den Unternehmen spürbar. Die konzeptionelle und strukturelle Gestaltung einer guten Vereinbarkeit von Beruf und Pflege fordert sowohl die Arbeitgeber:innen als auch Arbeitnehmer:innen und benötigt passgenaue Lösungen. In diesem Symposium werden Forschungsergebnisse aus aktuellen Projekten vorgestellt, die sich verschiedenen Akteursgruppen aus dem Themenfeld Vereinbarkeit von Beruf und Pflege widmen und die Diskussion um die Gestaltung von vereinbarkeitssensiblen Lebenswelten anregen und neu beleben wollen.
Allen Beiträgen gemein ist, dass sie analysieren, wie Vereinbarkeit als Ereignis einer Diskontinuität gestaltet werden kann. Dies soll gemeinsam im Plenum diskutiert werden.
Das Landesprogramm Vereinbarkeit von Beruf und Pflege in NRW will die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege für Beschäftigte mit Pflegeverantwortung in Nordrhein-Westfalen verbessern und damit einen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf kleinen und mittleren Unternehmen.
Gerade die sogenannten Kleinstunternehmen (bis 9 Beschäftigte) sind innerhalb der Forschung noch unterrepräsentiert. Und gerade bei dieser Gruppe von Unternehmen greifen gesetzliche Regelungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege nicht und es ist von besonderem Interesse, wie sie mit Vereinbarkeitserfordernissen umgehen. Ein Wissenszuwachs zur Situation von Kleinstunternehmen mit besonderem Fokus auf Unternehmenskultur, (An-)Sprache im Betrieb, Umsetzungsstrategien und Ansprache des Unternehmens bezogen auf Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ist Ziel des vorliegenden Vortrags. Dafür werden Ergebnisse aus einer Fokusgruppenbefragung im Rahmen des Landesprogramms vorgestellt und mit Blick auf die Bedeutung im Umgang mit Diskontinuitäten diskutiert. Dabei werden die Perspektiven unterschiedlicher Branchen berücksichtigt und Erfahrungen aus konkreten Vereinbarkeitssituationen und dem Umgang damit vorgestellt. Deutlich wird, wie eng Berufs- und Privatleben in Kleinstunternehmen miteinander verzahnt und wie wichtig flexible und individuelle Lösungen für die Befragten und ihren pflegenden Mitarbeiter:innen sind.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege wird vorrangig als individuell zu lösendes Problem diskutiert, vernetzte oder regionale Ansätze der Unterstützung werden nicht ausreichend thematisiert und ausgeschöpft (Borchers et al. 2021). Zunehmend mehr Unternehmen erkennen die Relevanz des Themas im Wettbewerb um Fach- und Arbeitskräfte: Steigende Belastung, Fehlzeiten oder reduzierte Arbeitszeit sind Risiken für individuelle Berufsbiografien und für betriebliche Personalpolitik. Zwar existieren zahlreiche gesetzliche Unterstützungsangebote sowie betriebliche, branchenübergreifende und regionale Maßnahmen und Dienstleistungen zur besseren Vereinbarkeit (Institut DGB-Index Gute Arbeit 2018). Diese Angebote werden aber von erwerbstätigen Pflegenden wie von Unternehmen kaum überschaut, wenig in Anspruch genommen und unzureichend umgesetzt. Gefordert sind daher Initiativen, die Unterstützungsnetzwerke der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege (Eggert et al. 2021) konkret als regionale Strategie entwickeln, umsetzen und gestalten.
Im Rahmen des EFRE-geförderten Projekts „work & care“ wurden Einschätzungen zur Relevanz und Erfahrungen mit dem Einsatz betrieblicher Instrumente zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege sowie Potentiale regionaler Handlungsstrategien erhoben. Methodisch basierte das Projekt auf problemzentrierten Interviews, Expert*inneninterviews, einer Kurzbefragung der Geschäftsleitungen und Vignetten-basierter Fokusgruppen. Die Ergebnisse zeigen, dass zunehmend mehr Unternehmen die Relevanz der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege als strategisches Thema wahrnehmen. Viele Betriebe sehen sich aber überfordert, die Sicherstellung der Vereinbarkeit stringent zu bearbeiten. Gerade in KMU fehlen Expertise und Ressourcen, um Maßnahmen über den betrieblichen Kontext hinaus und unter Rückgriff auf regionale Unterstützungsstrukturen zu entwickeln. Eine Qualifizierung betrieblicher Pflegelotsender allein ist nicht hinreichend. Darüber hinaus müssen Ansätze für bessere Vereinbarkeit als Regionalstrategie entwickelt werden. Diskontinuitäten der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zeigen sich nicht nur auf individueller und betrieblicher, sondern auch auf regionaler Ebene. Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit müssen stärker auf den Auf- und Ausbau regionaler Ansätze abstellen, dabei bestehende Strukturen einbeziehen und gezielt Dienstleistungsarrangements zwischen Unternehmen, professionellen Anbietern und zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickeln und fördern.
Thema und Zielsetzung: Double Duty Carer (DDC) sind Pflegende, die eine doppelte Pflegeverpflichtung wahrnehmen. Die Situation von Pflegekräften, die einen Angehörigen pflegen, ist bislang in Deutschland wenig erforscht. Die Belastungen und Bedarfe dieser wachsenden Zielgruppe wurden im Rahmen einer studentischen Forschungsarbeit an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe (Bochum) erfasst; das Projekt wurde in Kooperation mit dem „Kuratorium Deutsche Altershilfe“ und den „Regionalbüros Alter, Pflege und Demenz“ (Münster/westliches Münsterland) durchgeführt.
Ziel der Studie war es, Auswirkungen der doppelten Pflegetätigkeit auf Pflegefachkräfte zu erforschen. Zusätzlich sollten Maßnahmen ermittelt werden, die Unternehmen zur Entlastung der DDC-Mitarbeitenden treffen können.
Methodisches Vorgehen: Zu Beginn des Projektes wurde eine orientierende Literaturrecherche durchgeführt, die anschließend systematisch ausgeweitet wurde. Es wurde ein qualitatives Forschungsdesign umgesetzt. Zur Datengewinnung wurden leitfadengestützte Interviews mit Pflegefachkräften geführt. Die Daten wurden von Juni 2022 bis Februar 2023 erhoben. Es wurden insgesamt sechs Interviews (inkl. Pretests) mit Pflegefachkräften geführt. Interviews mit Leitungskräften waren angefragt, konnten aber mangels Rückmeldung nicht realisiert werden. Die Datenanalyse erfolgte nach der qualitativen Inhaltanalyse nach Mayring (Mayring 2015, 50ff.).
Ergebnisse und Ausblick DDC bringen durchschnittlich 20,6 Stunden private Pflegezeit pro Woche auf. Die bedeutendsten Auswirkungen doppelter Pflege werden für die Bereiche Sozialkontakte und Freizeitgestaltung beschrieben. Alle Teilnehmenden sagen aus, dass sie ihre Freizeit und das Sozialleben für die Pflege der Angehörigen stark einschränken. Die Interviewten haben zudem finanzielle Einbußen. Die genutzten Unterstützungsmöglichkeiten waren vielfältig; es wurden (in-)formelle Angebote in Anspruch genommen.
Die meisten Arbeitgeber bieten den DDC Maßnahmen zur Entlastung an. Insbesondere die Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit oder die Unterstützung durch das Team sind hier zu nennen. Auffällig ist, dass die meisten DDC nur wenige konkrete Ideen und Vorstellungen darüber äußern konnten, was der Arbeitgeber zusätzlich zur Entlastung beitragen könnte. Weitergehende Unterstützungsmaßnahmen für die hoch belastete Gruppe der DDC sind folglich eher auf politischer Ebene zu entwickeln.