Donnerstag, 21.09.2023
16:30 - 18:00
Raum Q114
W18
Settingbezogene Prävention für Ältere im ländlichen Raum
Moderation: J. Heusinger, Magdeburg
Gesundheitsförderung und Prävention sind eine der Säulen für ein gutes Leben im Alter und können viel zur Vermeidung und Verzögerung von Hilfe- und Pflegebedarf beitragen. Deshalb gilt es, gesundheitsförderliche Lebenswelten zu schaffen, die allen, insbesondere sozial und gesundheitlich benachteiligten Älteren, einen selbstbestimmten Alltag im angestammten Wohnumfeld auch bei zunehmenden Einschränkungen erlauben. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es mehr Wissen über Zusammenhänge von sozialer, gesundheitlicher und regionaler Ungleichheit, damit die richtigen Stellschrauben erkannt und bedient werden können. Zusammen mit den Menschen und den Akteuren vor Ort müssen viele Bausteine von einzelnen Angeboten bis zu einer Gesamtstrategie bewegt werden. Dies stellt ländliche Gemeinden vor besondere Herausforderungen, in denen Ältere nicht nur häufig mit Infrastrukturproblemen konfrontiert sind, sondern mit ihren Bedarfen und Potenzialen oft nur wenig gesehen werden. Im Panel werden ein Forschungsprojekt und zwei wissenschaftlich begleitete Projekte vor- und zur Diskussion gestellt, die diese Problematiken auf verschiedene Weise bearbeiten.
Der demografische Wandel und die damit einhergehenden Herausforderungen insbesondere für den ländlichen Raum verlangen nach einer Verknüpfung von niedrigschwelligen Überstützungs- und Versorgungsangeboten für ältere Menschen in einer nachhaltigen Gesamtstrategie. Ein sogenanntes Präventionsnetz kann eine bereichsübergreifende, gut vernetzte und koordinierte Struktur entwickeln, die den Bedarfen und Bedürfnissen Älterer gerecht werden kann und die regionale medizinisch/pflegerische Versorgung sowie Gesundheitsförderung stärkt.
In einem Modellvorhaben hat Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. in Kooperation mit einer Modellgemeinde den Aufbau eines kommunalen Präventionsnetzes für ältere Menschen auf Gemeindeebene erprobt. Hierbei wurde das Konzept der Präventionsketten mit der alternsgerechten Quartiersentwicklung verknüpft, mit dem Ziel, dass Ältere möglichst lange, gut und gesund in ihrem vertrauten Wohnumfeld leben können, indem strukturelle Veränderungsprozesse in der Gemeinde angestoßen und ein partizipativer Dialog mit den Bürger*innen geführt werden.
Das Modellprojekt zum Aufbau eines kommunalen Präventionsnetzes für ältere Menschen fand über zwei Jahre in der Brandenburger Region Baruth/Mark statt. Neben einer Bestands- und Bedarfsanalyse wurde eine ergebnisoffene Gemeindewerkstatt (Bedürfnisanalyse) durchgeführt, in der bestehende formelle und informelle Unterstützungsangebote diskutiert wurden. In diesem partizipativen Dialog wurden kulturelle, soziale und ökonomische Dimensionen untersucht, die das Wissen und die Erfahrungen der Bürger*innen vor Ort aufgreifen. Anschließend wurden zahlreiche Ressourcen, Aktivitäten und Akteure sichtbar gemacht, aber auch Defizite identifiziert. Über die erarbeiteten Ressourcen soll es möglich sein, Defizite ausgeglichen bzw. über zukünftige Maßnahmen einzudämmen, um so kommunale Problemlagen und Bedarfe angehen zu können.
Die Kommune Baruth hat mit dem Aufbau eines Präventionsnetzes begonnen und konnte im Laufe des Vorhabens so empowert werden, dass die angefangene strukturbildende Gemeindearbeit weitergeführt wird. Das Präventionsnetz gibt dabei eine Richtung vor, wie die zukünftige Netzwerkstruktur ausgerichtet sein kann, ohne Doppelstrukturen aufzubauen. Sie hat das Potenzial Angebote mit und für Ältere zu entwickeln, die ihren Bedarfen und Bedürfnissen gerecht werden und die örtlichen und historisch gewachsenen Gegebenheiten berücksichtigen.
Im Forschungsprojekt Generationenübergreifende Integration und Solidarität (GENIUS, gefördert 2019-22) wurden Erkenntnisse zur Aktivierung und Entwicklung der kommunalen politischen, sozialen und ökonomischen Kommunikation im dörflichen Leben empirisch und theoriebasiert gewonnen und analytisch in Modelle eines soziokulturellen Empowerments für die Gesundheitsförderung umgesetzt. Ziel war es, die noch weitestgehend unverstandenen Zusammenhänge von sozialer, territorialer und gesundheitlicher Ungleichheit im dörflichen Sozialfeld empirisch nachvollziehbar zu machen.
In einem ethnographischen Zugang wurden wöchentliche Bürgerbüros in drei Untersuchungsgemeinden vorgehalten und 49 biographisch-narrative Interviews geführt. Im Zuge der Corona-Krise wurden digitale Instrumente der Bürgerbeteiligung eingesetzt. Im Online-Dialog genius-mse.de waren alle BürgerInnen des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte eingeladen, Angebote und Bedürfnisse einzutragen. Die Analyse von sozialen und gesundheitsbezogenen Netzwerken in drei Dörfern ermöglichte es, die Polarisierungen der sozialen Beziehungen vor allem zwischen den Generationen mit Langzeit-Feldbeobachtungen (2008-2022) zu erfassen. Weiterhin kamen mit der Methodik nach dem Modell LETHE Gemeindewerkstätten als Instrument der kommunalen Gesundheitsförderung (Forkel 2021) zum Einsatz.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Privatisierung der Risiken im neoliberalen Wohlfahrtsstaat die Menschen nach der kollektivierten Verantwortung in den ehemaligen LPG-Dörfern nicht nur im Privaten verunsichert, sondern ebenso den demokratischen und kommunalen Gemeinsinn in den Gemeinden beeinflusst. Die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie haben diese Prozesse vor allem für die älteren und sozioökonomisch schwächeren EinwohnerInnen weiter verstärkt. Diese Rückzüge behindern neben anderen Effekten die Bedarfseinsicht und verzögern die Inanspruchnahme von Hilfen und gesundheitlichen und sozialen Diensten.
Im Beitrag werden die empirisch gestützten Analysen des regionalen Wandlungsprozesses und die Dynamiken in den sozialen Netzwerken der Gemeinden auf den Ebenen der politischen Partizipation und der nachbarschaftlichen Kooperation vorgestellt und vor dem Hintergrund der territorialen und gesundheitlichen Ungleichheit im Alter diskutiert.
Das System der Pflege gerät seit einigen Jahren zunehmend unter Druck. Der demographische Wandel schreitet auch in Brandenburg voran. Der Fachkräftemangel in der Pflege und die steigende Zahl pflegebedürftiger Menschen tragen zu dieser Entwicklung bei. Es braucht daher neue Strategien. Der Versorgungsbedarf entsteht primär dort, wo die Menschen wohnen und leben. Vor Ort braucht es Möglichkeiten den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu verzögern sowie Umfang und Schwere des Pflegebedarfs zu verringern. Der Wunsch auch im Alter mit Hilfe- und Pflegebedarf im vertrauten Wohnumfeld bleiben zu können, stellt Kommunen vor die Herausforderung, geeignete alters- und pflegegerechte Lebensräume zu gestalten. Im Land Brandenburg wurde deshalb der Pakt für Pflege ins Leben gerufen. Die finanzielle Förderung der Kommunen im Rahmen der Richtlinie „Pflege vor Ort“, begleitet durch eine Beratungsstruktur, ist ein zentraler Baustein des Pakts. Die Fachstelle Altern und Pflege im Quartier (FAPIQ) unterstützt die Kommunen bei der Gestaltung pflegegerechter Sozialräume. Für die Umsetzung des Ansatzes braucht es eine Veränderung des Verständnisses von Pflege im Sozialraum, mit neuen Verantwortlichkeiten und geeigneten Datengrundlagen, um auch unterhalb der Kreisebene gezielt strukturschwache und strukturstarke Regionen differenziert betrachten und neue Aufgabenprofile für die Vernetzung und Koordination von Pflege im Sozialraum entwickeln zu können. Der Beitrag geht auf die entstandenen Strukturen in den Gemeinden ein, die von Teilhabeangeboten über Mobilität und Koordinierungsstellen bis hin zu Vernetzungsstrukturen reichen. Dazu wurden die Ziele-Maßnahme-Tabellen der antragstellenden 144 Kommunen ausgewertet. Weiterhin wurden einzelne Projekte aus dem Bereich Teilhabe und Mobilität, sowie einige der Pflegekoordinator*innen befragt. Die Ergebnisse zeigen, wie durch die Förderrichtlinie Pflege vor Ort in den Kommunen sehr unterschiedliche Ansätze umgesetzt werden, die sich aus den lokalen Bedarfen heraus entwickeln. Abschließend werden die Herausforderungen und Chancen eines solchen offenen Bottom-Up Ansatzes diskutiert.