Freitag, 22.09.2023

11:45 - 13:15

Hörsaal Q015

S23

Pflegebedarf, Pflegesettings und Unterstützung für informell Pflegende: Quantitative und qualitative Forschungsperspektiven im (inter-)nationalen Kontext

Moderation: A. Schmitz, Dortmund

„Pflege“ ist ein Dauerthema – nicht nur in der Alter(n)sforschung, sondern zunehmend auch in politischen und medialen Debatten. Neben der Diskussion darüber, wie eine bedarfsgerechte Pflege der zunehmenden Anzahl älterer Menschen in Zeiten von Fachkräftemangel und knappen öffentlichen Finanzen gewährleistet werden kann, rückt zunehmend auch die Frage nach den Folgen von informeller Pflege auf das Wohlbefinden der pflegenden Angehörigen in das Interesse. Diese bilden eine wesentliche Stütze des Pflegesystems in Europas alternden Gesellschaften, sodass ein Verständnis für unterschiedliche Kontexte und Bedarfe grundlegend dafür ist, gezielte Unterstützungsangebote abzuleiten und somit Wohlbefindenseinbußen angesichts dieser herausfordernden Aufgabe entgegenzuwirken.  

Das Symposium beinhaltet vier Vorträge, die das Thema Pflege aus verschiedenen Perspektiven beleuchten, und dabei sowohl pflegebedürftige Personen selbst als auch informell Pflegende in den Blick nehmen. Die ersten beiden Vorträge bieten anhand von ländervergleichenden Analysen und kleinräumigen Analysen in Deutschland einen aktuellen Einblick in die konkrete Ausgestaltung von Pflegearrangements. Neben den Auswirkungen auf das Wohlbefinden pflegender Angehöriger stehen hierbei auch sozioökonomische Ressourcen auf Regionalebene im Fokus. Die beiden folgenden Vorträge thematisieren daran anknüpfend Unterstützungsbedarfe von pflegenden Angehörigen („distance caregiver“) sowie Möglichkeiten und Grenzen einer digitalen Anwendung zur Entlastung von pflegenden Angehörigen.  

11:45
Informelle Pflege der älteren Eltern in Europa: Der Zusammenhang zwischen Koresidenz und Pflegebelastung
S23-1 

R. Heidemann, M. Brandt, M. Wagner; Dortmund, München

Hintergrund und Fragestellung: In den kommenden Jahren ist in ganz Europa mit einer steigenden Zahl älterer Pflegebedürftiger zu rechnen, für deren Versorgung die Familie von zentraler Bedeutung ist. Die bisherige Forschung belegt meist negative Auswirkungen der informellen Pflege auf das Wohlbefinden der pflegenden Angehörigen, allerdings mit teils beachtlichen Länderunterschieden. Wir gehen der Frage nach, inwieweit Koresidenz, also das Zusammenleben von Pflegenden und Gepflegten, Länderunterschiede in den Auswirkungen von Pflege auf das Wohlbefinden pflegender Angehöriger erklären kann.

Methode: Wir verwenden Welle 8 des Survey of Health Ageing and Retirement in Europe (SHARE), die die Lebenssituation der 50+ in 26 europäischen Ländern dokumentiert. Letztere können in vier Regionen, die unterschiedliche Wohlfahrtsstaats-Typen mit unterschiedlichen Familien- wie Pflegenormen aufgeteilt werden (Nord, Süd, West, Ost). Das Analysesample besteht aus 10.959 Befragten, die noch mindestens ein lebendes Eltern- oder Schwiegerelternteil haben. Hiervon pflegen 1.096 mindestens ein Elternteil, wobei 275 mit den Pflegebedürften zusammenleben. Für die Analyse werden deskriptive Methoden und multivariate Logit-Verfahren verwendet.

Ergebnisse: Während Koresidenz ein eher übliches Phänomen in Süd- und Osteuropa ist (45% und 36%), kommt es in Westeuropa seltener (12%) und in Nordeuropa fast überhaupt nicht (<1%) vor. Im multivariaten Modell zeigt sich (unter Berücksichtigung regionaler Unterschiede), dass Koresidenz mit geringeren finanziellen Ressourcen und geringerer Lebenszufriedenheit der Pflegenden einhergeht und sie seltener auf Unterstützung durch noch lebende Geschwister zurückgreifen können. Die Pflegeintensität ist höher und es bleibt weniger Zeit für Freizeitaktivitäten. Ob die Pflege inner- oder außerhalb des Haushalts stattfindet, geht zu gut einem Zehntel auf Charakteristika der Regionen zurück.

Schlussfolgerung: Höhere Pflegebelastungen in Süd- und Westeuropa sind zum Großteil auf den höheren Anteil an Koresidenz mit dem zu pflegenden Elternteil zurückzuführen, da diese mit höherer Pflegeintensität und weniger Freizeitaktivitäten, geringeren sozialen und finanziellen Ressourcen und einer geringeren Lebensqualität einhergehen.

12:05
Geschlechter- und regionale Ungleichheiten in Pflegebedürftigkeit und Pflegearrangements: Erkenntnisse auf Basis von Pflegebegutachtungsdaten
S23-2 

J. Schütz, A. Schmitz; Kempten, Dortmund

Fragestellung: Die bisherige Forschung zu sozialen Ungleichheiten in Pflegebedarf und -arrangements stützt sich auf Umfragedaten, in denen zwar detaillierte Informationen zu den Lebensumständen erhoben werden, schwer beeinträchtigte und hochaltrige Personen jedoch aufgrund selektiver Befragungsteilnahme oft unterrepräsentiert sind. Der Beitrag untersucht folgende Fragen: Welche Unterschiede in den Pflegebedarfen lassen sich in Abhängigkeit von Geschlecht und Haushaltsform feststellen. Gibt es darüber hinaus Unterschiede in den Unterstützungsbedarfen und Pflegearrangements auf regionaler Ebene?

Methode: Grundlage sind Daten des Medizinischen Dienstes Bayern von mehr als 126.000 Personen, die den standardisierten Begutachtungsverfahren zur Einschätzung des Pflegegrades entstammen. Diese Individualdaten werden mit kleinräumigen Regionaldaten zur sozioökonomischen Lage verknüpft und anhand von bi- und multivariaten Verfahren analysiert.

Ergebnisse: Es existieren ausgeprägte geschlechtsspezifische Ungleichheiten. Frauen leben eher allein und haben häufiger keine (umfangreiche) Unterstützung von haushaltsexternen Pflegenden. Männer sind seltener alleinlebend und werden zusätzlich intensiver durch informelle Pflegepersonen versorgt. Auch unter Berücksichtigung von Alter und Grad der Beeinträchtigung leben Frauen zum Zeitpunkt des ersten Antrags auf einen Pflegegrad häufiger in Pflegeheimen. Die Wahrscheinlichkeit, in einer stationären Pflegeeinrichtung zu leben, steigt erwartungsgemäß mit Schwere der Pflegebedürftigkeit, wobei vor allem Mobilitätseinschränkungen entscheidend sind, ebenso wie psychische und Verhaltensstörungen.

Darüber hinaus bestehen regionale Unterschiede in den Pflegearrangements. Pflegebedürftige, die allein in ihrer eigenen Wohnung leben, sind vor allem in größeren Städten anzutreffen. Darüber hinaus spielt die wirtschaftliche Lage eine Rolle. Während ein höheres regionales Durchschnittseinkommen mit weniger Anträgen auf Pflegeleistungen einhergeht, steigt die Zahl der Antragstellenden in Regionen mit höheren Armutsquoten.

Schlussfolgerungen: Die Analysen zeigen damit, dass neben Geschlecht und gesundheitlicher Lage auch der Wohnort eine entscheidende Determinante von Ungleichheiten in Pflegebedarfen und -arrangements im Alter ist.

12:25
Distance caregiving: Anforderungen aus der Perspektive von Triaden
S23-3 

F. Bünning, A. Kuhlmey, A. Budnick; Berlin

Fragestellung: Die distance-caregiving-Triade besteht aus der pflegebedürftigen Person, dem distance caregiver und Personen des professionellen und weiteren lokalen Netzwerkes. Im Rahmen des Projektes ROAD – CaRegiving frOm A Distance wird die Fragestellung verfolgt, welche Kongruenzen und Divergenzen sich in interaktionalen, strukturellen und technischen Aspekten dieser Anforderungen befinden.

Methode: Es wird ein qualitatives Mehrmethodendesign angewandt: Es wurden problemzentrierte Leitfadeninterviews mit Akteur:innen aus 20 heterogenen distance-caregiving-Triaden separat geführt (n=60) und teilnehmende Beobachtungen in den Häuslichkeiten der pflegebedürftigen Personen durchgeführt (n=20). Ausgewertet wurde das Datenmaterial anhand der phänomenologischen Analyse nach Giorgi (Mayring 2016) und die Interviews sowie Beobachtungsprotokolle anschließend trianguliert.

Ergebnisse: Erste Ergebnisse zeigen Kongruenzen in strukturellen Aspekten wie dem Wunsch nach weniger Komplexität in bürokratischen Abläufen und Anpassung von Arbeitsstrukturen bezüglich flexibler Arbeitszeiten und finanzieller Vergütung der Carearbeit. Ebenfalls wird die gesellschaftliche und politische Unsichtbarkeit von distance caregiving von verschiedenen Akteur:innen benannt. Es zeigen sich auch Divergenzen: Das Wissen über, sowie die Einstellung zu technischen Unterstützungssystemen sind sowohl zwischen den Triaden, als auch zwischen den Akteur:innen heterogen. Weitere Divergenzen lassen sich in der Wahrnehmung der Akteur:innen bezüglich der Übernahme von Aufgaben sowie in Entscheidungs- und Kontrollprozessen finden.

Schlussfolgerung: Involviert in ein neues Versorgungsmodell für distance caregiving unterstützen die Ergebnisse eine zuverlässige Funktionsfähigkeit dieses Pflegearrangements. Anforderungen zwischen den pflegebedürftigen Personen inklusive lokalem Netzwerk und den distance caregivern unter Berücksichtigung der Distanz können durch die Befragung aller Akteur:innen interpersonell abgebildet werden.

12:45
„Ich finde die App sehr hilfreich, habe sie aber nicht genutzt“: Nutzungserfahrungen und Herausforderungen bei der Integration einer App in der informellen Pflege
S23-4 

A. Hudelmayer; Kempten

Hinführung: Obwohl pflegende An- und Zugehörige heterogene Bedarfslagen und Lebenssituationen aufweisen, zeigen empirische Studien übereinstimmend, dass sie ebenso häufig mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind: unübersichtliche Angebotslandschaften zu Leistungs- und Beratungszugängen sowie ein hoher organisatorischer und zeitlicher Aufwand zur Koordination der Pflege. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, haben es sich Anbieter digitaler Angebote zur Aufgabe gemacht, pflegende Angehörige zu unterstützen und Antworten für diese Bedarfe zu entwickeln.

Fragestellung: Vor diesem Hintergrund untersuchen wir im Rahmen einer Studie anhand einer marktreifen App die Frage, inwiefern und in welchem Zusammenhang diese App in realen Pflegesettings genutzt wird und inwieweit die Informationsvermittlung sowie die Kommunikation über diese zur Entlastung beiträgt.

Methode: Hierzu werden mit achtzehn informell Pflegenden, welche die App über mehrere Monate in ihrem Pflegealltag nutzen, jeweils zwei qualitative, leitfadengestützte Interviews durchgeführt: eines vor der Nutzung der Anwendung und eines danach.

Ergebnisse: Die mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewerteten Ergebnisse verdeutlichen eine Diskrepanz zwischen einer allgemein positiven Einschätzung der App und deren Funktionen einerseits und einem geringen Nutzungsverhalten bzw. einer kaum wahrgenommenen Erleichterung andererseits. In diesem Zusammenhang kommt dem Zeitpunkt innerhalb der Pflegebiographie, zu welchem die Teilnehmenden die App nutzen, eine hohe Bedeutung zu. So erleben die informell Pflegenden, die ihre Angehörigen bereits über einen längeren Zeitraum pflegen, durch die Nutzung der App – im Vergleich zu den bereits eingespielten Abläufen und bekannten Informationskanälen im Pflegealltag – kaum Erleichterung.

Schlussfolgerung: Die Ergebnisse zeigen die Bedeutung des frühzeitigen Wissens um digitale Technologien innerhalb des Pflegeprozesses: Anwendungen, welche auf die Koordination und die Organisation abzielen, entfalten ihr volles Unterstützungspotential für Angehörige vor allem, wenn sie von Beginn an in den Alltag integriert werden können. Die Befunde belegen zudem, dass es eine zentrale Herausforderung ist, informell Pflegende frühzeitig über die Existenz und Möglichkeiten digitaler Versorgungsanwendungen zu informieren.

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