Freitag, 22.09.2023

11:45 - 13:15

Hörsaal Q016

S24

Herausforderungen des sehr hohen Alters: Ergebnisse internationaler Studien

Moderation: D. Jopp, Lausanne/CH

Mit wachsender Lebenserwartung steigt die Wahrscheinlichkeit, heute sehr alt zu werden. Die Hochbetagten stellen die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in den Industrieländern dar, doch die Forschung zu dieser Altersgruppe ist noch begrenzt. Es gibt jedoch spezifische Herausforderungen im hohen Alter, die sich von denen früherer Lebensabschnitte unterscheiden. Sehr alte Menschen haben möglicherweise andere Bedürfnisse als jüngere alte Personen und benötigen daher eine stärkere soziale Unterstützung, aber auch angepasste Dienstleistungen oder Lebenssituationen. Gleichzeitig weisen Untersuchungen darauf hin, dass es im sehr hohen Alter durchaus Resilienz und psychische Stärken gibt.

In diesem Symposium befassen wir uns auf der Basis internationaler Studien mit ausgewählten Herausforderungen des sehr hohen Alterns, mit Fokus auf die Themen Gesundheit, Pflegebedürftigkeit, soziale Beziehungen, Lebensstil und Wohlbefinden.

Jopp und Kollegen präsentieren Ergebnisse der ersten nationalen Schweizer Hundertjährigenstudie SWISS100 zu den zentralen Funktionsbereichen Gesundheit, Kognition und Wohlbefinden.

Gellert und Kollegen berichten Ergebnisse zu sehr alten Personen, die während der COVID-19 Pandemie in Langzeitpflegeeinrichtungen lebten. Basierend auf Leistungsdaten der Krankenkassen wurde untersucht, inwiefern Hundertjährige unterschiedliche Raten an Krankenhauseinweisungen bzw. Sterbewahrscheinlichkeit im Vergleich zu jüngeren sehr alten Personen hatten.

Wenner und Kollegen analysierten in der Studie „Hohes Alter in Deutschland“ (D80+) Pflegebedürftigkeit bei sehr alten Personen. Hierbei verglichen sie die Informationen zu Alltagsaktivitäten mit der Pflegegraden.

Boerner und Kollegen stellt Daten der Bostoner Aging Together Studie vor, die die Konstellation sehr alter Eltern und ihren alten Kinder untersuchte. Vorgestellt werden Ergebnisse zu Herausforderungen und positiven Erfahrungen.

Stahlmann und Kollegen untersuchten die Aktivitäten von Hundertjährigen auf Basis von Daten der Zweiten Heidelberger Hundertjährigen-Studie sowie der New Yorker Fordham Centenarian Study. Die Befunde zeigen, dass ein aktiver Lebensstil auch bei Hundertjährigen von Vorteil für deren Wohlbefinden ist, allerdings unterschieden sich die Effekte bei genauerer Betrachtung spezifischer Aktivitäten.

Hans-Werner Wahl wird die vorgestellten Ergebnisse zusammenfassend diskutieren.

11:45
Schweizer Hundertjährige während COVID-19: Ergebnisse der SWISS100 Telefonstudie
S24-1 

D. Jopp, S. Cavalli, A. von Gunten, F. Herrmann, M. Martin, K. Uittenhove, J. Falciola, P. Project SWISS100; Lausanne/CH, Manno/CH, Prilly/CH, Thônex/CH, Zürich/CH

Die Schweiz ist eines der Länder mit der höchsten Lebenserwartung, dennoch gibt es nur wenige Studien, die sich dem sehr hohen Alter widmen. Das betrifft auch die Gruppe der Hundertjährigen, deren Zahl stark zugenommen hat. In dieser Präsentation werden die Ergebnisse von SWISS100, der ersten landesweiten Hundertjährigen-Studie in der Schweiz, vorgestellt. Ziel der interdisziplinären Studie ist es, das Leben im sehr hohen Alter zu beschreiben und besser zu verstehen, sowie spezielle Eigenschaften, Herausforderungen und Bedürfnisse dieser besonders alten Menschen zu identifizieren.

Die SWISS100 Telefonstudie wurde während der COVID-19-Pandemie durchgeführt. Hierbei wurden ab Herbst 2020 Hundertjährige in der gesamten Schweiz kontaktiert, die auf der Basis des nationalen Adressregisters per Zufall ausgewählt wurden. Insgesamt nahmen 171 Hundertjährigen an der SWISS100-Telefonstudie teil, teils durch die direkte Befragung von Hundertjährigen (n = 96) und teils durch die stellvertretende Befragung von nahen Angehörigen (zumeist Kinder; n = 102).

Die Hundertjährigen waren im Durchschnitt 102 Jahre alt, das Alter lag zwischen 100 und 110 Jahren. 75 % waren Frauen und 25 % waren Männer. Ein Drittel der Hundertjährigen hatte nur eine schulische Grundausbildung, ein Drittel hatte eine Lehre abgeschlossen und etwa ein Drittel hatte eine Hochschulausbildung. Die meisten Hundertjährigen lebten in Heimen (63 %). Von den in Privathaushalten lebenden Hundertjährigen lebte etwa die Hälfte allein, ein Viertel lebte mit einem Kind zusammen, und 12 % lebten noch mit dem Ehepartner zusammen. Die Mehrheit war verwitwet. Etwa 85 % hatten Kinder.

Über die Hälfte der Hundertjährigen berichtete über einen guten bis ausgezeichneten subjektiven Gesundheitszustand; gleichzeitig gaben über 70 % der Hundertjährigen an, häufig gesundheitliche Einschränkungen zu erfahren. Diejenigen, die noch kommunizieren konnten, wiesen ein hohes Wohlbefinden und bemerkenswerte psychologische Stärken auf, die sich als wichtig für die Aufrechterhaltung des Wohlbefindens während der COVID-19-Krise erwiesen.

Qualitative Analysen zeigten zudem, dass sich die COVID-19 Pandemie deutlich auf den Alltag der Hundertjährigen auswirkte, diese allerdings über hilfreiche Bewältigungsstrategien verfügten. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass die Hundertjährigen in der Schweiz verletzlich, aber auch psychisch widerstandsfähig sind.

12:00
Hundertjährige in Langzeitpflegeeinrichtungen und COVID-19-relevante Krankenhauseinweisungen
S24-2 

P. Gellert; Berlin

Während es aus Grundlagenstudien Hinweise auf schützende Effekte bei Hundertjährigen während der COVID-19-Pandemie gibt, zeigen epidemiologische oftmals keinen Überlebensvorteil für Hundertjährige im Vergleich zu jüngeren Kohorten. Es bedarf jedoch weiterer Analysen, um diese Trends zu untermauern.

Krankenhausbezogene Leistungsdaten der Kranken- und Pflegekasse (AOKen) in Deutschland während 3 Wellen der Pandemie (Jan 2020 bis Jun 2021) wurden für Hochaltrige (80-89 N=238.904; 90-99 N=164.933; 100+ N=8.264) Bewohnende von Langzeitpflegeeinrichtungen analysiert. COVID-19-relevante Krankenhausaufnahmen wurden anhand einer bestätigten COVID-19-Diagnose (ICD U07.1) und einer COVID-19-relevanten Hauptdiagnose identifiziert. Chi-Quadrat-Tests und ein multivariables logistisches Regressionsmodell (Alter, Geschlecht und COVID-19-relevante Komorbiditäten) mit Tod im Krankenhaus als abhängige Variable wurden geschätzt.

Im Alter von 80-89 Jahren wurden Männer (74,3%) häufiger ins Krankenhaus eingeliefert als Frauen (63,8 %), im Alter von 90-99 Jahren (25,4% bzw. 35,5%) und 100+ (0,3% bzw. 0,7%) jedoch seltener. Unter den Hundertjährigen in Langzeitpflegeeinrichtungen hatten 11 Männer und 43 Frauen eine bestätigte COVID-19-Diagnose in einem Krankenhaus, von denen 73% (8/11) und 74% (32/43) im Krankenhaus starben. Obwohl die COVID-19-bedingten Krankenhauseinweisungsraten sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Hundertjährigen deutlich niedriger waren als in den anderen Altersgruppen, waren die Sterberaten bei weiblichen Hundertjährigen signifikant höher als bei männlichen. Unter den Hundertjährigen waren 15 Bewohnende (alle weiblich) 110 Jahre und älter (d.h. Supercentenarians), und für keinen der Supercentenarians wurde eine Krankenhauseinweisung verzeichnet. Im multivariablen logistischen Regressionsmodell wiesen die 90-99-Jährigen (aOR 1,41, P<.001) und die über 100-Jährigen (aOR 2,91, P=.001) im Vergleich zum Alter von 80-89 Jahren ein erhöhtes Sterberisiko auf. Männer hatten ein erhöhtes Sterberisiko (aOR 1,68, P<.001).

Obwohl die Einweisungsraten bei Hundertjährigen niedriger waren, war die COVID-19-Krankenhaussterblichkeit bei weiblichen Hundertjährigen höher, was ein Indiz für alters- und geschlechtsspezifische Effekte auch bei den ältesten Menschen ist. Hundertjährige stellen eine besondere Gruppe dar, bei der Aspekte der Widerstandsfähigkeit und der Anfälligkeit bei der Behandlung und Pflege berücksichtigt werden müssen.

12:15
Ergebnisse der Studie "Hohes Alter in Deutschland (D80+)" zu Pflegebedürftigkeit
S24-3 

J. Wenner, J. Zimmermann, A. Albrecht; Köln

Pflegebedürftigkeit ist ein wichtiger Indikator der gesundheitlichen Lage im Alter und eine zentrale Orientierungsgröße der pflegerischen Versorgung. Im sozialrechtlichen Sinne wird Pflegebedürftigkeit im Rahmen der Pflegebegutachtung durch Pflegegrade erfasst, die die Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung ermöglichen. Neben den Pflegegraden kann die Pflegebedürftigkeit auch durch (instrumentelle Activities of Daily Living (I/ADL) operationalisiert werden. Wir vergleichen und analysieren die Zusammenhänge zwischen Pflegegraden und I/ADL der hochaltrigen Bevölkerung (80+) in Deutschland.

Die Analysen basieren auf der schriftlichen und telefonischen Befragung von 3.233 Hochaltrigen im Rahmen der Studie „Hohes Alter in Deutschland“ (D80+). Die Pflegebedürftigkeit wurde anhand einer direkten Abfrage der Pflegegrade (1-5) und einer I/ADL-Skala (nach Lawton & Brody, 1969) erfasst. Letztere besteht aus 7 basalen ADL und 7 instrumentellen ADL für die jeweils erfragt wird, wie selbstständig diese ausgeführt werden können (ohne Hilfe, ein wenig Hilfe, nur mit Hilfe). Wir vergleichen die beiden Konstrukte deskriptiv und explorieren mithilfe einer logistischen Regression (Pflegegrad ja/nein) den Zusammenhang zwischen Pflegegrad, I/ADL und weiteren Merkmalen der gesundheitlichen und sozialen Lage.

Basierend auf den angegebenen Pflegegraden sind 37,1% pflegebedürftig und damit etwas weniger als in der Pflegestatistik für das Jahr 2021 (44,4%). Angewiesenheit auf Hilfe in mehr als der Hälfte der ADL gaben 31,8% (ADL), 37,6% (IADL) bzw. 38,0% (I/ADL) an. Eine gemeinsame Betrachtung aller 14 I/ADL-Items zeigt die höchste Übereinstimmung mit der Erfassung der Pflegegrade (r=-0,71). Die stärksten Abweichungen gibt es bei Einschränkungen der IADL. 11,2% der Personen ohne Pflegegrad haben dennoch Einschränkungen in mehr als der Hälfte IADL. Unter Kontrolle der I/ADL zeigt sich, dass Personen mit Pflegegrad häufiger kognitiv eingeschränkt und multimorbide sind. Sie werden zudem häufiger vollstationär versorgt, ambulant oder privat gepflegt.

Die Erfassung der Pflegebedürftigkeit anhand der Pflegegrade und I/ADL führt zu abweichenden Ergebnissen. Insbesondere Einschränkungen der IADL werden unterschiedlich bewertet. Für eine differenzierte Abbildung der Pflegebedürftigkeit in Befragungsstudien – auch losgelöst von der Inanspruchnahme pflegerischer Versorgungsleistungen – ist eine Erfassung beider Konstrukte erforderlich.

12:30
Was Hochaltrigkeit mit sich bringt: “Alte Kinder“ sorgen für sehr alte Eltern
S24-4 

K. Boerner, D. Jopp, K. Kim; Boston/USA, Lausanne/CH, Seoul/ROK

Soziale Beziehungen im hohen Alter sind ein brisantes Thema, da den reduzierten sozialen Netzwerken der Hochaltrigen ihre zunehmenden Pflege- und Versorgungsbedürfnisse gegenüberstehen. Dieser Unterstützungsbedarf wird überwiegend durch die Folgegeneration abgedeckt, die jedoch oft selbst schon ein höheres Alter erreicht haben. Hochaltrige Eltern mit „alten“ Kindern sind ein wachsendes Phänomen in industrialisierten Ländern. Die empirische Befundlage zu sozialen Beziehungen im Alter und zu Erfahrungen und Unterstützungsbedürfnissen von sorgenden Angehörigen schließt diese Gruppe allerdings nur sehr begrenzt mit ein. Ziel der Boston Aging Together Studie Studie war es darum, die Beziehungskonstellation sehr alter Eltern und ihrer Kinder umfassend zu untersuchen.

Zu diesem Zweck wurden mixed-methods Interviews mit 114 Eltern-Kind Paare (Elternteil im Alter von 90 oder älter, Kind im Alter von 65 oder älter) durchgeführt. Unter anderem wurden Eltern und Kinder in einem offenen Teil des Interviews ausführlich zu sowohl möglichen Herausforderungen als auch positiven Aspekten ihrer Beziehung und Lebenssituation befragt. Diese Interviewteile wurden aufgenommen, transkribiert und dann mit qualitativen Methoden systematisch analysiert und kodiert.

Herausforderungen und positive Erfahrungen waren gleichermaßen präsent. Ein Vergleich von Eltern und Kindern zeigte jedoch eine negativere Bilanz bei den Kindern. Diese fühlten sich oft in besonderer Weise gefordert: Ein zentraler Gesichtspunkt war die Verantwortung für Mutter oder Vater im Zuge der Bewältigung eigener altersassoziierter gesundheitlicher Einschränkungen. Zusätzlich waren sie auf eine Lebensphase eingestellt, in der sie mehr Raum für ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse erwartet hatten. Dass sich dieser Freiraum durch die Langlebigkeit der Eltern nicht realisierte, wurde häufig als belastend bzw. als Verlust erlebt. Auch trat ein deutlicher Geschlechtereffekt auf: Die Wahrnehmung, ganz und gar in der Rolle der sorgenden Angehörigen gefangen zu sein und dabei nicht ausreichend auch ein „eigenes Leben“ zu haben, wurde ausschließlich von Töchtern berichtet. Folgeanalysen zeigten, dass Töchter oft die weitgehend alleinige Verantwortung für Mutter oder Vater trugen, wohingegen Söhne immer Teil einer sorgenden Gemeinschaft waren. Befunde weisen darauf hin, dass die Kinder von Hochaltrigen möglicherweise eine Risikogruppe unter pflegenden Angehörigen darstellen, die besonderer Unterstützung bedürfen.

12:45
Aktiv mit 100: Aktivitäten von (fast-)Hundertjährigen und ihre Beziehungen zur Lebenszufriedenheit und wahrgenommenem Lebenssinn
S24-5 

M. Stahlmann, D. Jopp, C. Lampraki; Zürich, Lausanne/CH, Genève/CH

Das Beibehalten eines aktiven Lebensstils ist Teil vieler Theorien und Konzepte zum gesunden Altern. Vorherige Forschung stützt diesen vermuteten Zusammenhang und zeigt, dass ältere Erwachsene, die weiterhin an Freizeitaktivitäten partizipieren, gesünder und glücklicher sind als diejenigen, die solchen Aktivitäten nicht nachgehen. Altersbedingte funktionelle Einschränkungen und Verluste stellen jedoch Hindernisse für einen aktiven Lebensstil dar, insbesondere bei sehr hochaltrigen Erwachsenen. Im sehr hohen Alter schaffen es Hundertjährige dennoch, ihr Wohlbefinden aufrechtzuerhalten, auch wenn sie mit diesen Widrigkeiten konfrontiert sind. Es ist allerdings wenig darüber bekannt, inwiefern Aktivitäten auch in diesem hohen Alter eine Rolle spielen und ob sich Hochaltrige darin unterscheiden, inwiefern sie von bestimmten Aktivitäten profitieren. In dieser Studie werden Assoziationen von Freizeitaktivitäten mit Lebenszufriedenheit und dem Lebenssinn untersucht. Auf der Basis von N = 224 Hochaltrigen (im Alter zwischen 95 und 107 Jahren) prüfen wir, welche Aktivitätsmarker (d.h., Anzahl an Aktivitäten, Arten von Aktivitäten, Diversität von Aktivitäten) mit dem Wohlbefinden zusammenhängen. Es zeigt sich, dass insbesondere Aktivitäten, welche der eigenen Erholung dienen (z.B. Musikhören, einen Brief schreiben) positiv mit Lebenszufriedenheit und Lebenssinn zusammenhängen. Aktivitäten, die dem Gewinn von Fähigkeiten und Wissen dienen (z.B. ein Museum oder die Bibliothek besuchen) zeigen hingegen einen negativen Zusammenhang mit Lebenszufriedenheit. Ein Zusammenhang von sozialen Aktivitäten zum Wohlbefinden lässt sich nur bedingt feststellen. Auch die Partizipation in Aktivitäten verschiedener Arten scheint eine Beziehung zum berichteten Lebenssinn zu haben. Zudem zeigt sich ein genereller Effekt des aktiven Lebensstils im Vergleich zu einem wenig aktiven Lebensstil. Es scheint daher in Teilen wichtig zu sein, mit welchen Aktivitäten Hochaltrige ihre Zeit verbringen, aber besonders, dass sie ihre Zeit aktiv verbringen, um das Wohlbefinden im Alter zu erhalten.

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