Freitag, 22.09.2023

14:15 - 15:30

Hörsaal Q015

S29

(Dis)Kontinuitäten in der pflegerischen Versorgung? - Betriebliches Gesundheitsmanagement in Pflegeheimen in Europa

Moderation: K. Hämel, Bielefeld; S. Kümpers, Fulda; M. Heumann, Bielefeld; C. Lückenbach, Bielefeld; T. Gerlinger, Bielefeld

Die angespannte Personalsituation stellt eine strukturelle Herausforderung für die stationäre Langzeitpflege nicht nur in Deutschland, sondern auch in weiteren europäischen Ländern dar. Sie reflektiert zum einen weit verbreiteten allgemeinen Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel, zum anderen aber auch große Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen. Hohe physische und psychische Belastungen der Beschäftigten gehen oftmals mit als gering wahrgenommenen Gestaltungsspielräumen in der Arbeitsumgebung einher. Diese Situation bringt sowohl eine Gefährdung der Pflegequalität für die Bewohner:innen als auch der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter:innen mit sich, die sich regelmäßig durch (zyklische) Abwanderungsprozesse zu verschärfen drohen.

Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) in Pflegeheimen, wie es verstärkt im Präventionsgesetz (PrävG) und im Pflegepersonal-Stärkungsgesetzt (2019) in Deutschland auf den Weg gebracht wurde, stellt eine Möglichkeit für die Verbesserung der Arbeitsumgebung in Pflegeheimen dar. Die Studie ‚BGM Pflege International‘, gefördert innerhalb des Programms ‚Mehrwert Pflege‘ des Verbands der Ersatzkassen e.V. (vdek), untersucht BGM in Pflegeheimen in den Niederlanden, Österreich und Schweden, um den Blick auf erfolgversprechende Ansätze zu erweitern und praxisorientierte Handlungsempfehlungen für Deutschland herauszuarbeiten.

Im Rahmen des Projekts wurden Literatur- und Dokumentenanalysen sowie Expert:inneninterviews mit Schlüsselpersonen der Langzeitpflege und des BGM in den drei Ländern durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Im Anschluss wurden und werden Feldbesuche in Pflegeheimen durchgeführt um Good-Practice-Ansätze näher zu analysieren.

Insgesamt wird deutlich, wie Systemunterschiede, institutionelle, politische und kulturelle Unterschiede hinsichtlich des Pflegesystems auf der einen Seite und des BGM-Systems auf der anderen Seite zu unterschiedlichen Ansätzen beitragen, während gleichzeitig auch Ähnlichkeiten in den Diskursen und den Lösungsansätzen sichtbar werden. Die Vorträge arbeiten die Besonderheiten in den Niederlanden, Österreich und Schweden heraus und stellen interessante Ansätze guter Praxis vor. Abschließend wollen wir gemeinsam mit den Teilnehmer:innen diskutieren und Vergleiche zur Situation und den Ansätzen in Deutschland ziehen.

14:15
Betriebliches Gesundheitsmanagement in Pflegeheimen in den Niederlanden
S29-1 

S. Kümpers, C. Lückenbach; Fulda, Bielefeld

Im Jahr 2015 wurde das niederländische System der Langzeitpflege umfassend reformiert, und ein neu geschaffenes Gesetz über die Langzeitpflege (Wet langdurige zorg – Wlz) regelt nunmehr die „schwere“ Pflege, also die Betreuung von Personen, die rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen sind. Es behielt – wie das vorige System – eine nationale, durch pauschale Beiträge finanzierte Pflegeversicherung bei. Schon vorher wurde versucht, die sehr hohe Institutionalisierungsquote älterer Menschen zu senken. Bereits seit 2013 dürfen nur Personen ab einer bestimmten Pflegestufe in ein stationäres Setting aufgenommen werden.

Pflegeheime befinden sich fast ausschließlich in der Trägerschaft privater Non-Profit Organisationen, häufig große Stiftungen, die etliche Einrichtungen, darunter Heime, ambulante Dienste oder auch Krankenhäuser betreiben. Die Personalsituation und damit auch die Qualität der Versorgung gelten als angespannt. Laut unseren Expert:inneninterviews (vgl. Abstract Symposium) werden Lücken in der Personalbesetzung oft durch selbständige ‚Springer:innen‘ oder Zeitarbeitende geschlossen, die individuelle Wünsche u.a. zur Arbeitszeit durchsetzen können, was die Situation der Stammbelegschaften weiter verschärft.

BGM ist in den Niederlanden für den Bereich der Arbeitssicherheit und der Wiedereingliederung klar geregelt (arbowet); für die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) gibt es aber kaum allgemeine Vorschriften. Allerdings stehen die Betriebe auch in diesem Bereich unter Druck, da langfristig erkrankte Mitarbeiter zwei Jahre lang Leistungen durch den Betrieb beziehen. BGF findet aktuell in größerem Umfang kommerzialisiert statt, indem Agenturen für Gesundheitsbelange in Betrieben (arbodienste) den Pflegeheimträgern vielfältige, meist individualisierte Maßnahmen (Bewegung, Ernährung, Entspannung etc.) anbieten.

Nach Auskunft unserer Interviewpartner:innen haben sich diese Strukturen und Angebote für die Pflegeheime als wenig erfolgreich erwiesen. Sie beschrieben aktuelle alternative Initiativen (ausgehend von Versicherungen, Trägerorganisationen, F&E-Institutionen), die Ansätze der Organisationsentwicklung partizipativ an der Arbeitszufriedenheit und dem Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen bzw. der Pflegeteams ausrichten und damit versuchen den circulus vitiosus der Frustration, Erkrankungen, Abwanderung und weiterer Personalengpässe zu durchbrechen.

14:30
Betriebliches Gesundheitsmanagement in Pflegeheimen in Österreich
S29-2 

C. Lückenbach, T. Gerlinger; Bielefeld

Das Risiko einer Pflegebedürftigkeit wird in Österreich seit 1993 über ein steuerfinanziertes, pauschalisiertes und gestuftes Pflegegeld abgesichert. Bei Bedürftigkeit werden Fehlbeträge über die Sozialhilfe/Mindestsicherung abgedeckt. Die rechtlichen Grundlagen der stationären Alten- und Langzeitpflege, u.a. Bewohner:innenrechte, Qualitätssicherung, Personalschlüssel, werden auf Länderebene geregelt. Dies führt zu einer Heterogenität zwischen den Bundesländern.

Die meisten Bewohner:innen von Pflegeheimen sind hochbetagt und stark pflegebedürftig. Gleichzeitig manifestiert sich ein erheblicher Personalmangel in allen Pflegebereichen. In Österreich werden die auch für Deutschland typischen Ursachen hoher physischer und psychischer Arbeitsbelastung angeführt, besonders aber auf die Folgen fehlender Zeit für Kommunikation und Care-Arbeit verwiesen.

Betriebliches Gesundheitsmanagement umfasst in Österreich die gesetzliche Verpflichtung zum Arbeits- und Gesundheitsschutz (ArbSchG) und zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) sowie freiwillige Leistungen des Arbeitgebers zur betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF). Letztere werden in Österreich umfassend verstanden, sodass „BGF in der Nachhaltigkeit“ dem deutschen Begriffsverständnis von BGM sehr nahekommt. Die wichtigsten Akteure für die Finanzierung und Durchführung von BGF sind die Österreichische Gesundheitskasse und das Österreichische Netzwerk Betriebliche Gesundheitsförderung. Sie halten ein bundesweit einheitliches Angebot bestehend aus Beratung durch unternehmensexterne Expert:innen und finanzielle Unterstützung bereit, mit dessen Hilfe BGF in Betrieben etabliert werden kann. Die erfolgreiche Durchführung nach definierten Qualitätsstandards kann zertifiziert werden und unterliegt dann einer regelmäßigen Überprüfung.

Auch in der stationären Langzeitpflege wurden einige Betriebe zertifiziert. Gespräche mit Expert:innen vor Ort (vgl. Abstract Symposium) ergaben einerseits, dass die Verfügbarkeit und konsequente Nutzung physische Belastungen reduziert und Zeit für Kommunikation und Austausch innerhalb der Teams und mit der Teamleitung die Arbeitszufriedenheit positiv beeinflusst. Besonders hervorgehoben wurde auch die Bedeutung, Zeit für die Bewohner:innen zu haben und die Pflege an deren Bedürfnissen ausrichten zu können. Demgegenüber wurde auch von Problemen berichtet, allen Mitarbeiter:innen den Nutzen von Hilfsmitteln – und damit auch deren Anwendung – erfolgreich zu vermitteln.

14:45
Betriebliches Gesundheitsmanagement in Pflegeheimen in Schweden
S29-3 

K. Hämel, M. Heumann; Bielefeld

In Schweden tragen die Kommunen weitreichende Verantwortung für die Altenpflege, die steuerfinanzierte, umfassende Leistungen beinhaltet. In den letzten 20 Jahren haben sie die Ambulantisierung stark vorangetrieben, sodass heute Menschen in Pflegeheimen einen intensiven Pflegebedarf haben. Schwedenweit sind rund 80% der Pflegeheime in kommunaler und 20% in privater Trägerschaft, letztere vielfach in den Händen skandinavienweit tätiger, gewinnorientierter Unternehmen. Die Marktöffnung wie auch das Leistungsspektrum der Langzeitpflege sind regional unterschiedlich entwickelt.

Studien belegen eine hohe psychosoziale Belastung von Mitarbeiter:innen in den Pflegeheimen. Migrierte Pflegekräfte sind im Vergleich zu einheimischen schlechteren Arbeitsbedingungen und höheren Belastungen ausgesetzt. Für diese Studie befragte Expert:innen (vgl. Abstract Symposium) kritisieren, dass Debatten über die Langzeitpflege dennoch überwiegend die Versorgungsqualität isoliert fokussierten, ohne deren Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen und der Gesundheit der Pflegekräfte zu berücksichtigen. Erst in den letzten Jahren richtet sich die Debatte verstärkt auf die notwendige Verbesserung von Arbeitsbedingungen.

Aus Sicht der befragten Expert:innen ist das Arbeitsumgebungsgesetz (Work Environment Act, Arbetsmiljölagen) eine trägfähige Grundlage für BGM. Es verpflichtet Arbeitgeber, in enger Kooperation mit den Gewerkschaften ein systematisches Arbeitsumgebungsmanagement zu leisten. Im Jahr 2016 erweiterte Regelungen zur organisationsbezogenenen und sozialen Arbeitsumgebung stellen einen wichtigen Schritt da, um gezielt psychosoziale Arbeitsbedingungen (Arbeitsverdichtung, emotionale Belastung etc.) in der Langzeitpflege zu verbessern. Gleichzeitig ist aus Sicht der Expert:innen jedoch eine Kluft zwischen hohem rechtlichen Standard und fehlender Umsetzung in der Praxis zu beobachten.

Nach Auskunft unserer Interviewpartner:innen dominieren verhaltensorientierte Maßnahmen der Gesundheitsförderung für Mitarbeiter:innen in Pflegeheimen. Als vielversprechende Ansätze, die Mitarbeitergesundheit strukturell in der Organisation zu verankern, sehen die Expert:innen insbesondere die Entwicklung teamorientierter Leadershipansätze und einer stärkeren Beteiligung der Mitarbeiter:innen bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen und -strukturen.

15:00
Das Projekt BINDUNG - Belastungsreduktion in der Demenzpflege und Gestaltungsoptimierung. Die partizipative Entwicklung einer verbesserten Beziehungsgestaltung zwischen Altenpflege- und Betreuungskräften und BewohnerInnen als Maßnahme betrieblicher Gesundheitsförderung
S29-4 

C. Leopold, A. Happacher, S. Pohlmann; München, Augsburg

Fragestellung: Gelingende Beziehungsgestaltung bei der Pflege von Menschen mit Demenz (MmD) ist zentral für hohe Versorgungsqualität und für einen entlasteten Pflegealltag der MitarbeiterInnen. Studien benennen für ein gelingenderes Miteinander eine Haltungsänderung der MitarbeiterInnen. Solche Änderungen sind komplex, benötigen Zeit. Geklärt werden sollte, a) ob eine gezielte Beschäftigung mit „verbesserter Beziehungsgestaltung“ im Pflegealltag umsetzbar ist und b) wie eine Haltungsänderung bei den Pflege- und Betreuungskräften für eine gelingende Beziehungsgestaltung erfolgen kann und c) ob dies Mitarbeitende entlastet.

Methode: Es wurden 3 städtische Heime (184,183,110 Bewohner) mit hohem Anteil von MmD einbezogen. Über partizipative Aushandlungen wurden alle Schritte zur verbesserten Beziehungsgestaltung erarbeitet. Der Einbezug der Gesamtbelegschaft wurde gesichert über Plakat- und Informationsveranstaltungen, Moderationsrunden, gestaffelte digitale/ analoge Befragungen (u.a. COPSOQ) mit Abstimmungen und anschließender Ergebnisrückmeldung.

Ergebnisse: Die Heime brachten sich über 2 Jahre mit je ca.15 Terminen von 1,5 h ein; gaben wiederholt ihre Zustimmung zur Fortsetzung. Die Befragungen identifizierten die Themen „physische Anforderungen (Lärm, Anstrengung), "emotionale Anforderungen wie Verbergen von Gefühlen" und "fehlende soziale und Führungsunterstützung" als belastend. Zu den Problemen wurden partizipativ Interventionen für Verbesserungen entwickelt. Als zielführend für herausfordernde Beziehungsbelastungen mit MmD stellte sich die gemeinsame Gestaltung von E-Learning-Apps heraus. Die Themen: Empathischer Umgang mit bedrohlichen Bewohnersituationen, notwendiges Wissen für einen beziehungsnahen Umgang mit MmD, komplexe Fälle mit unklaren Lösungsstrategien, Umgang mit schwierigen Angehörigensituationen. Durch die Apps konnte im Gruppen- oder Einzelsetting ein stress-reduziertes Bearbeiten der Situationen besprochen werden. Herausgestellt wurde, dass zusätzlich die Beziehungsgestaltung zwischen den Mitarbeitenden notwendig ist für einen geänderten Bewohnerumgang.

Schlussfolgerung: Die Methoden führten trotz eines belastenden Pflegealltags zu einer nachhaltigen Beschäftigung mit gelingender Beziehungsgestaltung. Die Maßnahmen entlasteten, waren bei den Pflegekräften beliebt, „Beziehungsgestaltung“ wurde nachhaltig in die Arbeitsprozessgestaltung integriert. In einem Folgeprojekt ist eine Übertragung auf andere Häuser des Trägers vorgesehen.

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