Freitag, 22.09.2023
09:30 - 11:00
Hörsaal Q015
S19
Alter(n) ohne Menschen? Humanzentrierung und -dezentrierung in der Gerontologie
Moderation: V. Gallistl, Wien/A; J. Hahmann, Vechta
Das Alter(n) wurde in der Gerontologie lange als menschliches Phänomen verstanden und an älteren Menschen untersucht: Gerontologische Forschung fokussiert auf Altersprozesse, die sich am menschlichen Körper zeigen, sich im menschlichen Körper vollziehen oder als soziale Konstruktion auf den menschlichen Körper beziehen. Der humane Körper ist damit der zentrale Ausgangspunkt vieler gerontologischer Fragestellungen: „If the older (human) body did not age there would be literally no gerontological story to write or read“ (Hepworth, zit.n.Katz 2011). Über den menschlichen Körper und damit verbundene Phänomene z.B. der alltäglichen Praktiken, der Einbindung in Lohnarbeit, darin eingeschriebene Ungleichheitsdimensionen, werden menschliche Akteur*innen und ihre Handlungsmacht zentriert und nicht-menschliche Akteur*innen kaum bis gar nicht in den Blick genommen.
In den letzten Jahren haben Forscher*innen im Feld der materiellen Gerontologie jene humanzentrierten Zugänge zunehmend in Frage gestellt und sich damit beschäftigt, wie das Alter(n) in Relation zu nicht-menschlichen Akteur*innen - wie Objekten, Dingen, Räumen - hergestellt wird. Mit Referenz auf materialitätstheoretische Theorien versteht die materielle Gerontologie das Alter(n) als ein verteiltes Phänomen, hergestellt in materiell-diskursiven Praktiken, durch die menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen gleichermaßen das Alter(n) ko-konstitutieren (können) und ihr Verhältnis im Prozess der Herstellung von Alter(n) zur empirischen Frage gemacht wird. Der Mensch ist in solchen Zugängen nicht länger der zentrale Ort des Alter(n)s (Höppner & Urban, 2018) und nicht-menschliche Akteur*innen werden in der Herstellung des Alter(n)sprozesses als aktiv handelnde Akteur*innen verstanden. Im Anschluss an Hepworth ließe sich nun fragen, ob solche Ansätze Gefahr laufen, das Alter(n) zu „entmenschlichen“?
Dieses Symposium bringt Beiträge zusammen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und anhand diverser Forschungsfelder mit dieser Frage auseinandersetzen. Ziel des Symposiums ist es, das Alter(n) als rein menschliches Phänomen in Frage zu stellen, nicht-menschliche Akteur*innen als relevante Akteure der Gerontologie zu denken und gleichzeitig die Limitationen einer solchen Perspektive auf das Alter(n) zur Diskussion zu stellen.
Hintergrund: Das Alter(n) wurde in der Gerontologie lange als menschliches Phänomen verstanden, rasante technologische Entwicklungen – allen voran die Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI)– fordern humanzentrierten Ansätze allerdings zunehmend heraus. In Zeiten in denen „datenhungrige“ Technologien Daten zu älteren Körpern sammeln, analysieren und darauf aufbauend algorithmisch gestützte Entscheidungen im Alltag älterer Menschen treffen, ist der alternde Körper nicht mehr eine, sondern viele (Mol, 2008) und lässt sich nicht nur im Alltag, sondern auch in Dateninfrastukturen untersuchen. Solche datafizierte Körper (Lupton 2022) wurden bislang allerdings konzeptionell und empirisch kaum im Kontext des Alter(n)s untersucht.
Fragestellung & Methoden: Ziel dieses Beitrags ist es, das Konzept des datafizierten Alter(n)s zu diskutieren. Dafür bezieht sich der Beitrag auf Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt ALGOCARE, in dem der Einsatz von KI in der Pflege untersucht wird. Es wurden 15 qualitative Interviews mit Entwickler*innen, älteren Nutzer*innen, Pflegepersonal und Bewohner*innenvertreter*innen geführt und gemeinsam mit Protokollen aus 48 Stunden teilnehmender Beobachtung situationsanalytisch ausgewertet.
Ergebnisse und Diskussion: Die Relevanz von Daten zur Entwicklung von KI für das Alter zeigt sich anhand von zwei Praktiken (Ground-Truthing & Synthesizing), wobei normative Vorstellungen über ältere Körper, ihre Bewegungen und Grenzen in beiden Fällen die Auswahl die Herstellung von Daten leiten. Sichtbar werden solche normativen Vorstellungen etwa anhand der Frage, welches Verhalten in Daten abgebildet wird, und welches ‚unvermessen‘ bleibt. Der Beitrag zeigt die Relevanz von datafizierten Körpern für die Gerontologie auf und argumentiert dafür, neben menschlichem Altern auch das Alter(n) in Daten zukünftig in den Blick zu nehmen.
Hintergrund: Gerontologisches Wissensbestände zirkulieren über Länder- und Disziplinengrenzen hinweg und machen Übersetzungsleistungen notwendig. Solche Übersetzungen führen jedoch nicht notwendigerweise zu synonymen Ergebnissen; stattdessen verschieben sich Inhalte und Nuancen gehen verloren. Das Projekt „Space, Age and Social Exclusion – A French-German Dialogue“ zielt vor diesem Hintergrund auf einen systematischen Vergleich von Alters-, Raum- und Exklusionskonzepten im französischen, deutschen und englischen Sprachraum. Im Beitrag wird unter der Fragestellung des Symposiums diskutiert, wohin der ältere Mensch konzeptionell gerückt wird, wenn wir durch diese unterschiedlichen begrifflichen und damit konzeptionellen „Brillen“ auf Alter(n) blicken.
Methodik: Der Beitrag basiert auf einer systematischen Analyse von Raumbegriffen in deutsch- und französischsprachigen Lexika der Gerontologie, Soziologie und Geographie, die mit englischsprachen Konzepten kontrastiert werden. Die Ergebnisse werden in multidisziplinären Gruppendiskussionen mit Expert:innen validiert.
Ergebnisse und Conclusio: Verschiedene Raumkonzepte und ihre Übersetzungen (de-)zentrieren den älteren Menschen in unterschiedlichem Ausmaß – so stellt etwa der Begriff „Ort“ die subjektive Lebenswelt in den Vordergrund, der „Sozialraum“ das soziale Gefüge. Translationsschwierigkeiten finden sich u.a. in Policy-Konzepten wie „age-friendliness“ und „aging-in-place“, aber auch in theoretischen Begriffen wie „agency“ und „belonging“ in Person-Umwelt-Verhältnissen. Darüber hinaus finden sich in anderen Disziplinen und Sprachräumen alternative Raumkonzepte (z.B. relationaler Raum, terroir), die für die deutschsprachige Gerontologie fruchtbar gemacht werden können.
Hintergrund und Fragestellung: Partizipation hat in der Gerontologie, Altenhilfepolitik und -praxis Konjunktur. In der stationären Altenhilfe ist dies durch die Stärkung der Partizipationsrechte von Menschen mit Pflegebedarf über die UN-Behindertenrechtskonvention und (weiterentwickelte) Heimgesetze der Bundesländer begründet. Das Verhältnis von Partizipation und Raum innerhalb von Altenhilfeeinrichtungen wird noch wenig berücksichtigt und dies gilt auch für (Stufen)Modelle von Partizipation, obwohl in ökogerontologischen und sozialraumorientierten Ansätzen auf Zusammenhänge aufmerksam gemacht wird. Deshalb werden im Vortrag mittels einer am relationalen Raumbegriff von Löw orientierten Mapping Age-Perspektive Zusammenhänge zwischen Partizipation und Raum ausgelotet.
Methodik: Qualitative Daten aus zwei Studien zur stationären Altenhilfe wurden im Rahmen einer Sekundäranalyse inhaltsanalytisch ausgewertet.
Ergebnisse: Materiell-diskursive Praktiken, mit denen Partizipation in Altenhilfeeinrichtungen im Zusammenspiel von Menschen und Räumen ko-konstitutiert wird, sind vielfach zu identifizieren. Hinsichtlich Partizipation in Bezug auf Raum wird deutlich, dass in den untersuchten Einrichtungen ein breites Spektrum vorzufinden ist, das von Nicht-Partizipation durch räumliche Anweisungen bis hin zur Selbstorganisation bei offen anzueignenden Räumen zu finden ist. Raum kann wiederum strukturell Entscheidungsmacht und Selbstorganisation ermöglichen oder behindern, etwa indem dieser vorhanden sowie gut erreichbar und niedrigschwellig nutzbar ist – oder nicht. Werden diese zwei Stränge zusammengeführt, verdichten sich wechselseitige Bezüge zwischen Partizipation und Raum in Strukturen und Prozessen der Raumaneignung, Raumgestaltung und Raumplanung. Eine solche raumbezogene Konzeption von Partizipation hat Konsequenzen für die Praxis und für Studien, in denen (Stufen)Modelle von Partizipation genutzt werden. Sie verdeutlicht, dass Partizipation in Altenhilfeeinrichtungen räumlich unterschiedlich verteilt ist. Eine fehlende Berücksichtigung der Materialität von Räumen des Alters in Bezug auf Partizipation kann in der stationären Altenhilfe zu einer Verräumlichung von Zuschreibungen zu Gesundheit und Krankheit beitragen und Inklusions- oder Exklusionsprozesse fördern.
Biografische Ansätze in der Profession der Sozialen Altenarbeit wie auch in den Disziplinen der Gerontologie und der rekonstruktiven Sozialforschung arbeiten schon lange mit der Verwicklung von Biografie und Materialität. Vor allem wenn Transitionsprozesse, wie z. B. der Eintritt in den Ruhestand, Partnerschaftsverluste oder der Umzug in eine Pflegeeinrichtung, thematisiert werden, haben materiell-gerontologische Studien gezeigt, wie produktiv eine solche Betrachtung für den Gegenstand Alter(n) sein kann.
Der Beitrag will diese Perspektive am Beispiel des generativen Sorgens um Naturen_Kulturen in der Strukturwandelregion Lausitz aufgreifen. Dazu fragt der Beitrag, wie sich 1) biografisches Altern mit regionalem Altern verschränkt, 2) welche relationalen Praktiken des Sorgens und Versorgens – ganz im Sinne eines weiten Care-Begriffs (Tronto, 1993) – eine Rolle spielen und wie sich 3) diese Mikro-Praktiken in die Biografien der dort lebenden älteren Menschen eingeschrieben haben und verkörpern. Wie fallen biografische Narrative des Altwerdens mit gesellschaftspolitischen Diskursen um regionale Umbruchsprozesse und bundesdeutschen Strukturwandel zusammen? Wie gehen ältere Menschen in der Lausitz mit den regionalen Veränderungsprozessen im Zuge des Kohleausstiegs um? Wie haben sich landschaftsgeschichtliche, geowirtschaftliche und geopolitische Prozesse mit den Biografien älterer Menschen verbunden und welche Formen des Kümmerns um die zurückgelassenen und übriggebliebenen Industrieanlagen und -flächen finden sich? Und inwieweit wird in diesen Praktiken des Kümmerns auch ein lebensgeschichtliches Aufräumen und Verarbeiten sichtbar?
Der Beitrag stellt theoriegeleitete Überlegungen vor, die materiell-gerontologische Ansätze mit Theorieangeboten einer mehr-als-menschlichen Anthropologie und Naturen_Kulturen Studien verbinden, und berichtet erste empirische Befunde aus einer laufenden Forschung, um darauf aufbauend Rückschlüsse auf Möglichkeiten und Grenzen einer Dezentrierung menschlichen Alterns zu ziehen.